Beat Döbeli Honegger formuliert in seinem hervorragenden Buch „Mehr als 0 und 1“, das ich gerade mit viel Freude lese, drei Aspekte „digitaler Allgemeinbildung“:
- Anwendungskompetenz,
- Medienbildung und
- Informatik.
Wenn man mit Schüler/innen digitale Medien produktiv einsetzen möchte, z.B. um die Schüler/innen Erklärvideos erstellen zu lassen, mit ihnen zu bloggen oder sie mit einem Wiki arbeiten zu lassen, gilt es in der Regel, zunächst die Anwendungskompetenz im Umgang mit den zu benutzenden digitalen Tools aufzubauen.
Ich habe in den letzten Jahren öfter darüber nachgedacht, in welcher Form man mit Lernenden Anwendungskompetenz am besten erarbeitet. Im Wesentlichen scheint es zwei grundlegende Herangehensweisen zu geben:
- Schritt-für-Schritt Instruktion (z.B. als Screenshot-Tutorial oder Video) und
- Explorative Selbsterarbeitung durch die Lernenden.
Schritt-für-Schritt
Die Schritt-für-Schritt-Methode gleicht einem Klickrezept, das dem Nutzer vorgibt, welche Schritte nacheinander zu erledigen sind, um eine bestimmte Aufgabe im digitalen Kontext auszuführen. Meine ersten Gehversuche im ITG-Unterricht vor einigen Jahren gehören in diese Kategorie. Diese Methode hat den Vorteil, dass die Lernenden sehr zügig die wesentlichen Bedienungsschritte lernen und dann sehr schnell mit der Arbeit beginnen können.
Diese Herangehensweise hat aber auch einige Nachteile. Zum einen sind die Anleitungen sehr eng auf die anzuwendende Software abgestimmt. Da diese sich mit der Zeit ändert, stimmen die Anleitungen nicht mehr und müssten eigentlich aktualisiert werden. Die oben verlinkten Tutorials für MS Word sind z.B. für aktuelle Word-Versionen kaum noch zu gebrauchen. Für die Aktualisierung fehlt allerdings in der Regel die Zeit, so dass die Anleitungen sozusagen ein Verfallsdatum haben.
Des Weiteren müsste man für verschiedene Varianten einer Softwaregattung (z.B. Word, Writer, Pages, Google Docs etc.) eigentlich jeweils eigene Anleitungen erstellen. Auch das ist in der Praxis kaum zu leisten.
Schließlich ist mir bei diesem Ansatz negativ aufgefallen, dass die Schüler/innen sich in eine Haltung begeben, die ich für nicht erstrebenswert halte: Sie folgen der Anleitung sehr eng (oder auch gar nicht, aber das ist ein anderes Thema) und denken dabei wenig nach. Wenn die vorgefundene Situation nicht exakt der Anleitung entspricht, fragen sie sofort nach ohne selbst alternative Wege auszuprobieren. Es scheint, als ob die Art der Anleitung sie geistig auf das Abarbeiten der Schritte verengt und nicht dazu anregt, reflektierend selbst aktiv zu werden.
Explorativer Ansatz
Der explorative Ansatz funktioniert völlig anders: Die Lernenden erhalten nur eine grundlegende Einführung, die eher auf die Funktionsprinzipien der Software fokussiert und keine kleinschrittigen Anleitungen enthält. Sie werden dann aufgefordert, Übungsaufgaben zu bearbeiten bei denen sie ausgehend von der allgemeinen Einführung die Software selbst erkunden müssen. Die Auswahl der Übungsaufgaben dient dazu, die zu erkundenden Pfade etwas vorzustrukturieren. Man damit sicherstellen, dass die wesentlichen Funktionen einer Software erarbeitet werden und die Lernenden sich nicht in unwichtigen Details verzetteln. Die individuellen Lernwege sind dennoch unterschiedlich.
Der Vorteil dieses Ansatzes liegt darin, dass die Lernenden sich intensiver mit der Software beschäftigen, weil sie sich aktiv „darin umschauen“ müssen. Dabei entdecken sie in der Regel ein breites Spektrum von Funktionen. Außerdem gewöhnen sie sich mit der Zeit an, ausgehend von einer zu erledigenden Aufgabe, ein Programm mit wachem Blick zu durchforsten, um die Aufgabe zu lösen. Dies entspricht wohl in den meisten Fällen der realen Problemstellung, wenn man außerhalb der Schule mit neuer Software arbeitet.
Die so gestalteten Unterrichtsmaterialien sind auch langlebiger, weil sie keine detaillierten Klickschritte enthalten, sondern eher auf Grundprinzipien ausgerichtet sind, welche sich auch bei größeren Versionssprüngen in der Regel nicht oder kaum ändern (eine Tabellenkalkulation funktioniert heute noch grundlegend genauso wie von zehn Jahren, auch wenn die Benutzeroberfläche sich inzwischen stark verändert hat).
Schließlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Schüler durch die explizite Aufforderung, das Programm zu „erkunden“ mit offenerem Blick arbeiten und eher selbst nach Lösungen suchen anstatt ständig um Hilfe zu fragen.
Der Nachteil dieser Methode ist, dass man in der Regel mehr Zeit braucht und die Erarbeitung der Software zumindest temporär zum Unterrichtsgegestand wird. Das Klickrezept ist hingegen oft kurz genug, um es als kurzen Einschub zur Vorbereitung der inhaltlichen Arbeit wahrzunehmen.
Dieser Ansatz sollte dann ergänzt werden um eine Diskussion über die gefundenen Prinzipien, über die Strategien der Erarbeitung, über gemachte Erkenntnisse etc.
Bisher habe ich bei diesem Ansatz immer mündlich erklärt, wie man eigenständig Hilfe finden kann. Um das nicht immer wiederholen zu müssen und die eigenständige Suche nach Lösungen auch in komplexeren Situationen zu ermöglichen, habe ich nun ein Video gemacht, in dem verschiedene Verfahren der Lösungssuche erklärt werden.
Das Video ist in eine Wiki-Seite eingebunden, die u.a. Beispiele für Diskussionen in Foren verlinkt, um die entsprechenden Aussagen im Video zu veranschaulichen.
Beispiele
Im Gegensatz zu den bereits oben genannten „Klickrezepten“ für Word habe ich für die Benutzung einer Tabellenkalkulation (unabhängig von Hersteller und Betriebssystem) Materialien zur explorativen Einarbeitung erstellt.
- Benutzeroberfläche eines Tabellenkalkulationsprogramms
- Zellbezüge in einem Tabellenkalkulationsprogramm
- Rechnen mit einem Tabellenkalkulationsprogramm
- Diagramme mit einer Tabellenkalkulation erstellenVor allem die letzte Seite setzt sehr intensiv auf das aktive Erkunden, daher habe ich dort (und auch an anderen Stellen, wo es um Software geht), den Hinweis auf das „Arbeiten mit wachem Verstand“ eingefügt.
Weitere Beispiele sind die Videos zur Einführung in das Webdesign, in denen ich ebenfalls versucht habe, die grundlegenden Prinzipien zu verdeutlichen. Auf die Erarbeitung der Videos muss dann eine Phase eigenständiger Übung und Vertiefung folgen, die aber bei jeder Schülerin/bei jedem Schüler anders verläuft.
In welchen Situationen ist welcher Ansatz sinnvoll?
Im Vergleich ist der explorative Ansatz geeignet, fundierte Anwendungskompetenz aufzubauen und bei den Lernenden Orientierungswissen bezüglich der Software aufzubauen. Wenn diese Methode mit kritischen Fragen, Diskussionen und Transferfragen kombiniert wird, kann man neben dem Aufbau von Anwendungskompetenz auch allgemeine Medienbildung betreiben. Der Preis dafür ist ein höherer Zeitaufwand.
Auch reflektierte Medienkompetenz kann so wachsen. Zum Beispiel dann, wenn man zunächst erarbeitet, wie man mit einem Programm oder einer Softwaregattung arbeitet und parallel dazu auch gemeinsam reflektiert, was die grundlegenden Eigenschaften der Software sind, welche Stärken und Schwächen sie hat, welche Rolle sie beim eigenen Lernen und im eigenen Alltag spielen kann etc.
Der Schritt-für-Schritt-Ansatz wird eher dazu führen, dass die Lernenden einen relativ eng gesteckten Funktionsrahmen einer Software lernen und sich dabei eher weniger grundlegende Gedanken machen. Dafür muss man jeweils weniger Zeit aufwenden.
Daraus ergeben sich unterschiedliche Einsatzszenarien: Wenn ich möglichst zügig dafür sorgen möchte, dass die Lernenden eine konkrete Funktion benutzen können, weil das inhaltliche Ziel im Vordergrund steht, setze ich eher die Schritt-für-Schritt-Methode ein.
Wenn ich hingegen Software einführe, die grundlegend wichtig ist, die immer wieder zum Einsatz kommen wird und die geeignet ist, allgemeine Prinzipien der Softwaregattung oder digitaler Medien allgemein zu verdeutlichen, ist eher der explorative Ansatz sinnvoll. Das wäre zum Beispiel bei der Einführung von Wikis der Fall, wenn die Klasse anschließend für längere Zeit damit arbeiten soll oder eben beim Arbeiten mit so grundlegenden Softwaregattungen wie Textverarbeitung oder Tabellenkalkulation. Heute würde ich daher die Einführung in Word (a) nicht mehr herstellerspezifisch angehen und (b) nicht mehr als Klickrezept.
Beides kann aber auch kombiniert werden: In der ersten Stunde der Wiki-Arbeit gebe ich in der Regel ein Klickrezept vor, mit dem die Schüler/innen schnell eine einfache Wiki-Seite gestalten können und damit schnell einen Erfolg sehen. Anschließend geht es dann eher nach dem explorativen Prinzip weiter.
Bei alltäglichen Anleitungen für Kolleginnen und Kollegen sind Klickrezepte oft günstiger. Wenn man z.B. erklären will, wie man sein Passwort ändert oder wie man Programme auf den Schulrechnern findet, steht nicht das prinzipielle Erarbeiten im Vordergrund, sondern das schnelle Erschließen einer konkreten Lösung. Wenn man hingegen eine Fortbildung gestaltet, in deren Rahmen zentrale Software der Schule langfristig gelernt werden soll, kann u.U. der explorative Ansatz nachhaltiger wirken.
[UPDATE] Jessica Goller schreibt, dass sie v.a. mit jüngeren Schüler/innen (Unterstufe) einen gemischten Ansatz betreibt: Schritt-für-Schritt-Anleitungen gäben zunächst Orientierung, die Öffnung zum explorativen Ansatz erfolgt dann nach und nach. Das kann ich gut nachvollziehen. Ich habe selbst keine Erfahrungen mit so jungen Schüler/innen (in ITG bzw. mit digitalen Medien erst ab Klasse acht aufwärts), daher konnte ich bisher schon auf Grundlagen aufbauen.
Ein Gedanke zu „Reflektierende Anwendungskompetenz beim Erlernen von Software aufbauen“