Arbeitnehmerkompetenzen oder Persönlichkeitsbildung?

Telepolis hat ein Interview mit Felicitas Römer, die ein Buch über Arme Superkinder geschrieben hat. Hier ein paar relevante Auszüge aus dem Interview.

Ein gutes Beispiel dafür, wie Wirtschaft sich immer mehr in Bildung einmischt, sind die so genannten Kompetenzerfassungsbögen für Kita-Kinder: Hier werden schon bei Kleinkindern exakt die Schlüsselkompetenzen abgefragt, die die OECD – also eine hochrangige und international agierende Wirtschaftsinstitution – für Arbeitnehmer definiert hat. Und Unternehmensverbände und Handelskammern fordern ganz offen, dass Schule die Schüler maximal auf den Arbeitsmarkt vorbereiten soll. Auch die Schulzeitverkürzung war keine Idee von Lehrern und Pädagogen, sondern von der Wirtschaft. Hier geht es um Konkurrenzfähigkeit.
Telepolis Interview

Insgesamt kritisiert Frau Römer den starken Einfluss der Wirtschaft auf die Gestaltung der Schule und den damit einhergehenden Fokus auf messbare Größen bei der Entwicklung und Beurteilung von Schule und Unterricht.

Bei der Pisa-Studie geht es zudem um Vergleichbarkeit, das hat immer etwas mit Verwertbarkeit zu tun, also mit marktwirtschaftlicher Nutzbarmachung. Und das ist wenig auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet, sondern auf wirtschaftliche Interessen. Wie Wirtschaftsvorgaben zu allgemeingültigen Kriterien gemacht werden, zeigt sich auch an anderen Stellen: Es gibt zum Beispiel kostenpflichtige Berufseinschätzungsbogen für Gymnasiasten – da werden aber nur kognitive Sachen abgefragt. Alles Künstlerische, Musikalische, Handwerkliche, Soziale bleibt außen vor, kommt überhaupt nicht vor in diesem Regelkanon. Warum macht man denn so einen Test? Die Welt öffnet sich für alles Mögliche und wir verengen uns immer mehr auf ein paar bestimmte Qualifikationen. Das ist absurd.
ebd.

Dazu passt ein Post von Larry Ferlazzo über Accountability. Das kann man auf Deutsch „Verantwortung“ nennen, in der gegenwärtig vorherrschenden Herangehensweise muss man es aber eher mit „Rechenschaft“ übersetzen. Verantwortung überträgt einem jemand, der einem vertraut, Rechenschaft verlangt jemand, der einem nicht vertraut

I’m not a fan of the word ‘accountability’ when it is related to schools. It comes from the Latin roots meaning ‘calculate,’ and it reinforces the view that everything that happens in schools is countable. I prefer the word some dictionaries use as a definition for the word — they say it means responsible, which is defined as:

Able to make moral or rational decisions on one’s own and therefore answerable for one’s behavior.

Able to be trusted or depended upon; reliable.

Based on or characterized by good judgment or sound thinking.
Larry Ferlazzo: I Don’t Like ‘Accountability’, meine Hervorhebung

Die Hauptaussage des Interviews mit Felicitas Römer und von Larry Ferlazzos Post ist, dass zu oft versucht wird, Schule, Schüler und Lehrer zu „vermessen“. Damit konzentriert man sich unweigerlich auf die Aspekte, die man messen kann: Noten, standardisierte Leseleistung, Übergangszahlen etc.

Es gibt in der Schule aber sehr wichtige Prozesse und Ereignisse, die sich nicht messen lassen:

  • Der Zugewinn an Selbstvertrauen, wenn ein Schüler eine schwierige Aufgabe gemeistert hat,
  • die plötzlich entdeckte Freude an einem Fach, weil bei einem Thema die Inhalte packend waren und die Herangehensweise des Lehrers einen Aha-Effekt erzeugt hat,
  • der Frust über eine schlechte Note, obwohl die Vorbereitungszeit für die Klausur umfangreich und intensiv war – und der Hoffnungsschimmer, wenn der Lehrer durch ein Bauchgefühl geleitet nach der Rückgabe besagter Klausur ein Gespräch anfängt, in dem das zentrale Problem des Schülers langsam zu Tage tritt und damit eine Lösung denkbar wird,
  • der E-Mail-Austausch mit einem Lehrer über einen Zeitungsartikel, der nur am Rande etwas mit dem Unterricht zu tun hat, dafür aber ein gemeinsames Interessenfeld berührt und das Vertrauensverhältnis, das durch solche Kommunikation entsteht,
  • die Diskussion in der Klasse über einen Medienbericht, in deren Verlauf wichtige Prinzipien des kritischen Hinterfragens und Reflektierens besprochen und angewandt werden,

Je mehr Zeit für das standardisierte „Messen“ verwendet wird, desto weniger Zeit bleibt für die genannten Situationen. Die meisten von ihnen lassen sich nicht direkt in Noten oder Items übersetzen, viele davon tauchen nicht mal am Rande in den schulischen Maßeinheiten auf. Manche davon können dennoch prägend für die Persönlichkeit sein (auf Schüler- und auf Lehrerseite). Was solche persönlichen Prägungen leisten können, wird im folgenden Video deutlich. Darin erzählt Ruth Simmons, Präsidentin der Brown University, welchen Einfluss eine Lehrerin auf ihre persönliche Entwicklung hatte.

Wir sollten als Lehrer nie aus den Augen verlieren, dass wir es mit jungen Menschen zu tun haben, die oft noch ihren Weg suchen. Manchmal wird der Weg von Steinen blockiert, die von anderen dorthin gelegt wurden. Zum Beispiel von einer Gesellschaft, die sehr enge Vorstellungen davon hat, was Erfolg bedeutet und was nicht. Oder auch von Lehrern, die solche Vorstellungen manchmal unreflektiert transportieren. Oder auch von Eltern, die so sehr bemüht sind, bloß alles richtig zu machen, dass manches falsch läuft.

Als Lehrer kann man manchmal solche Steine aus dem Weg zu räumen. Manchmal. Das dauert meist länger und ist selten planbar. Man braucht dafür z.B. Gespräche, ruhige Beobachtung, gemeinsame außerschulische Aktivitäten, das Plaudern während der Pausenaufsicht. Man braucht Zeit, Muße und Energie dafür. Wenn man von einer Korrektur/ Konferenz/ Evaluation/ Steuergruppe/ kompetenzorientierten Fortbildung/ … zur nächsten hetzt, bleibt davon wenig übrig.

Man könnte auch sagen, je mehr „vermessen“ wird, desto weniger menschlich kann die Schule sein, weil es auf allen Seiten Druck erzeugt, vermessen (und immer auch verglichen) zu werden — Die Schule müsste aber mehr menschlich sein.

Ich denke noch fast jede Woche an eine Situation aus meinem Referendariat. Ich hatte gerade eine Bio-Stunde im Rahmen eines „beratenden Unterrichtsbesuchs“ meines Fachleiters gehalten. Es ging um nichts, außer um den Eindruck, den der Fachleiter von mir bekam. Trotzdem war ich angespannt. Wir verließen den Fachraum, ich war im Begriff abzuschließen und in Gedanken bereits beim nun anschließenden Gespräch, in dem meine Stunde analysiert werden würde. Auch ich als Person würde auf dem Prüfstand stehen, denn für einen Referendar ist (wie für Schüler) die Verbindung zwischen der bewerteten Leistung und dem Selbstbild der eigenen Persönlichkeit (noch) sehr eng.

Eine Fünftklässlerin, die ich nicht kannte, kam schüchtern zu uns und fragte, ob sie noch kurz in den Raum dürfe, sie hätte vielleicht vorher hier ihr Mäppchen liegen lassen. Ich ließ sie rein und wartete in Gedanken an der Tür.

Mein Fachleiter, ein erfahrener, durch und durch menschlicher Lehrer mit Herzblut, nahm mich bei der Hand (!) und zog mich in das Klassenzimmer: „Herr Kalt, sie müsse dem Mädle helfe. Sie müsse frage: ‚Wo bisch g’sesse? Wo hasch’s liege lasse?‘“. Und dann suchten wir zu dritt nach dem Mäppchen.

Wir haben es nicht gefunden, aber ich habe die Einsicht gewonnen, nie den Blick für die Menschen in der Schule zu verlieren, die sich hinter den Schülern verbergen.

Dieser menschliche Blick bewirkt manchmal weit mehr als alle messbaren Maßnahmen und Methoden zusammen.

 

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