In den letzte Wochen haben sich einige Autoren mit der Frage beschäftigt, wie die „junge Generation“ mit dem Netz umgeht. Auslöser war ein SPIEGEL-Artikel mit dem Titel ‚Null Blog‘, der argumentiert, dass es gar keine „Netzgeneration“ gebe, sondern dass das Netz im Alltag der Jugendlichen eine eher marginale Rolle spiele.
Zwei sehr lesenwerte Beiträge zum Thema stammen von
- René Scheppler: Ja wo surfen sie denn und
- Torsten Larbig: Das Netz, seine Funktionen und die ‚Null Blog‘-Debatte.
In diesem Beitrag möchte ich drei Aspekte aufgreifen, die diese Debatte streifen:
- Ist die Unterscheidung in digital natives und digital immigrants sinnvoll und wie fundiert ist die Argumentation dazu?
- residents und visitors als alternativer Verständnisansatz
- Drei Texte zur sinnvollen und „balancierten“ Nutzung des Netzes
(1) Natives vs. Immigrants?
Letztlich geht es auch um die Frage, ob „die Jugendlichen“ tatsächlich als digital natives anzusehen sind, denen „die Älteren“ als digital immigrants gegenüber stehen.
Marc Prensky hat diese Unterscheidung in einem Aufsatz im Jahr 2001 eingeführt (PDF). Beim Lesen kommen mir aber schon bald Zweifel an Prenskys Expertise und Glaubwürdigkeit. Seine Argumentation ist an vielen Stellen nicht überzeugend.
Prensky erklärt zum Beispiel, dass (2001) alle Kinder und Jugendlichen vom Kindergarten- bis zum College-Alter mit digitalen Technologien groß geworden seien und sagt dann:
It is now clear that as a result of this ubiquitous environment and the sheer volume of their interaction with it, today’s students think and process information fundamentally differently from their predecessors.
Quelle S. 1
Fundierte Daten für diese weitreichende Aussage bleibt er schuldig. Es genügt ihm zu sagen, dass die Aussage „klar“ sei.
Er führt weiter aus, dass die digital natives sich in der Schule vorkämen, als würden sie von „Ausländern mit heftigem [analogem] Akzent“ unterrichtet. Die Jugendlichen seien fundamental anders als ihre Vorgängergenerationen denn:
Digital Natives are used to receiving information really fast. They like to parallel process and multi-task. They prefer their graphics before their text rather than the opposite. They prefer random access (like hypertext). They function best when networked. They thrive on instant gratification and frequent rewards. They prefer games to “serious” work.
Quelle S. 2
Dieser Absatz ist meines Erachtens eine Mischung aus offensichtlichen Einsichten, unbelegten Vermutungen (die aber als Tatsachen dargestellt werden) und nur scheinbar vorhandenen Veränderungen.
- „Digital Natives are used to receiving information really fast.“ — Das ist fast unweigerlich der Fall, wenn man in einem „normalen“ Haushalt in den USA oder in Europa aufwächst und täglich eine nennenswerte Zeit fernsieht. Die Aussage trifft aber auf alle Menschen zu, die das tun, nicht nur auf die Jugendlichen.
- „They like to parallel process and multi-task.“ — Eine unbelegte Aussagen, deren generalisierbarer Wahrheitsgehalt ich bezweifle.
- „They prefer their graphics before their text rather than the opposite.“ — Diese Aussage legt nahe, dass digital immigrants lieber zuerst „den Text“ lesen und dann erst die Abbildungen bearbeiten. Auch das bezweifle ich in dieser allgemeinen Form.
- „They prefer random access (like hypertext).“ — Sehr fragwürdig.
- „They function best when networked.“ — Auch das ist meines Erachtens zu bezweifeln. Am ehesten ist das eine Frage der Persönlichkeit, ob ich gerne vernetzt mit anderen oder lieber alleine für mich arbeite.
- „They thrive on instant gratification and frequent rewards.“ — Das ist sicherlich keine Neuentwicklung. Auch digital immigrants lassen sich davon „locken“, sie hatten es in ihrer Jugend lediglich schwerer, an die frequent rewards ranzukommen.
- „They prefer games to “serious” work“ — Die immigrants dagegen arbeiten lieber als zu spielen? Aha.
Bezüglich der Inhalte sieht Prensky eine Dichotomie: es gebe auf der einen Seite legacy content
“Legacy” content includes reading, writing, arithmetic, logical thinking, understanding the writings and ideas of the past, […]
Quelle S. 4
und future content:
“Future” content is to a large extent, not surprisingly, digital and technological. But while it includes software, hardware, robotics, nanotechnology, genomics, etc. it also includes the ethics, politics, sociology, languages and other things that go with them.
Quelle S. 4
Laut Prensky ist legacy content immer noch wichtig, stammt aber aus einer anderen Zeit. Der future content dagegen sei sehr relevant und sei extrem interessant für die digital natives (S. 4).
Ich sehe nicht, inwiefern lesen und schreiben nicht auch „nativ“ aus dem digitalen Zeitalter stammen, denn der überwiegende Teil der Kommunikation im Netz findet über Schrift statt. Wer also von Klein auf mit digitalen Medien umgeben war, konnte sich nur über das Lesen und Schreiben darin zurecht finden und mitteilen.
Außerdem halte ich die Aussage für fragwürdig, dass future content für die digital natives extrem interessant sei, Prenky impliziert hier ein geradezu „natürliches Interesse“ an diesen Themen. Das widerspricht meiner Erfahrung.
Für Prensky ist der Königsweg für die Schule, die Inhalte in Form von Computerspielen zu präsentieren, denn damit seien die natives vertraut, diese sprächen sie an (S. 4). Abgesehen davon, dass es meines Erachtens nicht sinnvoll wäre, wenn man Computerspiele flächendeckend im Unterricht einsetzte (der Reiz davon ginge bald verloren), mögen meiner Erfahrung nach bei Weitem nicht alle Jugendlichen Computerspiele. Auch hier nimmt Prensky wieder eine übertreibende Generalisierung vor.
Ein Beispiel Prensky’s zeigt, dass er insgesamt ein recht oberflächliches und fragwürdiges Verständnis davon hat, was Gegenstand des Unterrichts sein sollte und welche Fähigkeiten für Schüler wichtig sind:
In geography – which is all but ignored these days – there is no reason that a generation that can memorize over 100 Poke’mon characters with all their characteristics, history and evolution can’t learn the names, populations, capitals and relationships of all the 101 nations in the world. It just depends on how it is presented.
Quelle S. 5
Anstatt die Namen, Bevölkerungszahlen, Hauptstädte etc. aller 101 [sic] Nationen der Welt anders zu präsentieren, wäre eher ein generelles Hinterfragen dieser Inhalte angebracht.
Prensky’s Aufsatz und auch sein Ansatz sind für mich nicht überzeugend. Er scheint die Aussage des o.g. SPIEGEL-Artikels zu unterstützen, dass „[e]ine kleine Industrie von Autoren, Beratern und findigen Therapeuten von der immer gleichen Botschaft [lebt]“.
(2) Residents vs. Visitors
Durch Herrn Rau bin ich auf einen Vortrag aufmerksam geworden, der eine anderen Ansatz zum Verständnis der unterschiedlichen Nutzungsweisen des Netzes verfolgt. Statt natives und immigrants, die sich hauptsächlich durch den Zeitpunkt ihrer Geburt unterscheiden, sieht Dave White einen Unterschied zwischen residents und visitors. Dieser Unterschied betrifft nicht bestimmte Altersgruppen, sondern beschreibt lediglich Nutzungsmuster. Eine Person kann in verschiedenen Feldern (z.B. beruflich und privat) beide Charakteristika haben.
Das Erklärungsmuster ist das Ergebnis einer Studie, die an der Universität Oxford zum Netz-Nutzungsverhalten von Lernern durchgeführt wurde. Sein Ansatz überzeugt mich und hilft meines Erachtens deutlich besser, die Herangehensweisen an das Netz zu verstehen:
Eine knappe Zusammenfassung in Textform gibt es hier: Not ‘Natives’ & ‘Immigrants’ but ‘Visitors’ & ‘Residents’.
(3) Ein sinnvoller Umgang mit dem Netz
Für diejenigen, die im Netz „zu Hause“ sind, stellt sich früher oder später die Frage nach der richtigen Balance zwischen Online und Offline, zwischen Offenheit und Privatsphäre. Dazu habe ich in letzter Zeit drei lesenswerte Beiträge gefunden.
- Damian Duchamps schreibt Neue Strukturen fordern neue Kompetenzen und fasst die Fragen zum Thema „Wie viel Offenheit, wie viel Privatsphäre“ knapp und prägnant zusammen.
- Markus Albers schreibt Machen statt tweeten und beschreibt anschaulich und persönlich seine Versuche der Balance.
- Paul Graham sieht eine Acceleration of Addictiveness, weil mit der zunehmenden Geschwindigkeit, mit der Neues in die Welt kommt, auch immer schneller neue Dinge auftauchen, die wir „zu sehr mögen“ und die für uns problematisch werden können.