Fakten sind wichtig: Kritik am Open Letter to Educators,

Dan Brown hat ein interessantes Video gedreht, das er als „Open Letter to Educators“ versteht. Er legt darin seine Vorstellungen dar, wie (Hochschul)-„Education“ – auf Deutsch möglicherweise eine Mischung aus „Bildung“ und „Ausbildung“ – (in den USA) ist und wie sie sein sollte.

Beim ersten Betrachten hatte ich das Gefühl, vielen Aussagen zustimmen zu können. Bei genauerem Nachdenken kamen mir aber einige Fragen und Kritikpunkte in den Sinn, die ich hier kurz darlegen möchte.

Ich sehe diesen Beitrag als „lautes Denken“ und wäre daher sehr erfreut, wenn eine Diskussion darüber meine Nachdenken darüber schärfen – oder auch meine Punkte widerlegen – würde.

(1) Historischer Trend zur Entwertung von Information

Dan sieht einen linearen Trend im Verlauf der Geschichte, dass Information immer wertloser wurde. Er betrachtet die Geschichte geradezu durch die „Informationslinse“ und sieht in Information eine treibende Kraft historischen Wandels.

Ich bin kein Historiker und kann das nicht ausreichend beurteilen, aber diese Sichtweise scheint mir etwas einseitig. Oder irre ich mich?

(2) Lehrbücher sind nutzlos, weil besser aufbereitete Informationen online verfügbar sind

[… textbooks] that I would never open […] because better, easier-to-find information was available online.

Diese Aussage halte ich für völlig abwegig. Ich habe mich gefragt, welches Fach Dan wohl studiert hat, dass er seine Lehrbücher nie benutzt und stattdessen auf frei online verfügbare Informationen zurückgegriffen hat.

Meine Erfahrung ist eine völlig andere: Im Netz findet sich eine Menge unstrukturierter Information zu „gängigen“ Themen. Wenn das Thema aber etwas spezieller wird oder man strukturierte Information sucht, weil man in einem neuen Feld zunächst Orientierung braucht, ist man im Netz schnell aufgeschmissen.

Und wenn man im Netz auf freie, strukturierte Informationen stößt (z.B. in einem hervorragenden Wikipedia-Beitrag), erkennt man nicht selten an den Quellenangaben, dass diese oft in großem Umfang aus Lehrbüchern übernommen wurden (ich meine nicht plagiarisiert, sondern basierend auf Lehrbuchinformationen verfasst).

Man könnte nun sagen, dass das nur so ist, weil die open content Bewegung erst am Anfang steht. Meines Erachtens wird es aber frei und kostenlos nie so solide und strukturierte Informationen geben, wie sie in Lehrbüchern (oder Portalen, E-Books etc.) kostenpflichtig angeboten werden. Denn das Strukturieren von Informationen, das Prüfen und didaktische Aufbereiten macht jemandem, der sich in einem Feld auskennt, eine Menge Arbeit. Diese Arbeit wird immer bezahlt werden müssen.

(3) Fakten sind frei und kostenlos, es stellt keinen Wert dar, sie zu beherrschen

Dan schildert Vorlesungssituationen, in der seine Professoren den Studenten „facts“ vermittelten. Es bleibt etwas unklar, was er damit meint, aber aus dem Kontext könnte man schließen, dass Fakten ohne Verständnis „gelehrt“ wurden.

Wenn das so war, ist das natürlich sinnlos. Das Auswendiglernen von Fakten kann nicht das Ziel von education sein, denn solches Wissen bleibt ohne Anwendungsbezug und ist daher wenig hilfreich.

Allerdings scheinen seinen Aussagen eine gegenteilige Position zu favorisieren: Es mache keinen Sinn (mehr), Fakten zu kennen, denn die seien frei und kostenlos verfügbar.

But society no longer cares how many facts you can memorise because in the information age, facts are free.

Und weiter …

[Education] is not about teaching students how to conform to the world as it is.
It is about empowering students to change the world for the better.

Beide Aussagen klingen irgendwie toll, besonders aus der Sicht eines Studenten: Das langweilige Lernen ist überflüssig, weil die Informationen nun frei und immer verfügbar sind. Und „empowering students to change the world for the better“ ist ja ohnehin ein Ziel, dem niemand ernsthaft widersprechen wollte.

Allerdings darf man sich fragen, wie denn Schüler (oder Studenten) in der Lage sein sollen, die Welt positiv zu verändern, wenn sie nicht durch grundlegendes Faktenwissen darüber erstmal die Möglichkeit bekommen haben, die Welt zu verstehen.

Natürlich ist es sinnlos, Fakten über die Welt auswendig zu lernen, ohne dabei auch das Verknüpfen, Vergleichen, Verdichten von Information zu Wissen und Verständnis anzustreben. Aber Wissen und Verständnis kommen ohne die Fakten nicht aus.

Wenn ich ein Tsunami-Warnsystem entwickeln möchte (das zählt wohl zu der Kategorie „die Welt positiv zu verändern“), muss ich zunächst mal eine Menge Fakten über den Aufbau der Erde, die Tektonik von Kontinentalplatten, das Verhalten von Meereswellen etc. lernen. All das sind wohl solche Fakten, wie Dan Brown sie in seinem Video als neuerdings nutzlos ankreidet.

Nochmal: Natürlich muss ich aus diesen Fakten auch das Verständnis für Prozesse entwickeln und muss weiterhin kreativ werden, Ideen haben und Problemlösungsstrategien kennen. Aber ohne die Fakten, bleibt mein Tsunami-Warnsystem ein Hirngespinst.

Insofern könnte man Dan’s Aussage sprachlich leicht und inhaltlich damit gravierend verändern:

Education is about teaching students how to understand the world as it is and thus empowering them to change it for the better. (Meine Aussage)

Fazit

In Dan Browns Video scheint eine Haltung durch, die momentan sehr verbreitet ist: Wenn man überall leicht auf Informationen zugreifen kann, braucht man diese nicht mehr zu lernen.

Das ist meines Erachtens ein Trugschluss. Denn das vielbeschworene Filtern, Sortieren und Bewerten von Informationen (z.B. im Netz) funktioniert nur, wenn in meinem Kopf ein solides Vorwissen vorhanden ist, mit dem ich Neues vergleichen kann. Wenn ich nichts weiß, ist alles Neue gleich wichtig oder unwichtig, gleich richtig oder falsch und gleich sinnvoll oder sinnlos.

Außerdem sollte man meines Erachtens nicht unterschätzen, wie viel schneller (im Vergleich zu einem Recherchevorgang) ein Gehirn im Verknüpfen von „gewussten“ und sinnvoll verknüpften „Fakten“ ist. Assoziationen und kreative Verknüpfungen von scheinbar Unverknüpftem können leicht entstehen, wenn die zu verknüpfenden Informationen im Gehirn gespeichert sind. Sie entstehen nur schwer, wenn man nach diesen Informationen erst suchen und sie sich in dem Moment erst aneignen muss.

Insofern halte ich einen soliden Grundstock von „verstandenen Fakten“ heute für genauso wichtig wie ehedem.

Und nun freue ich mich auf Widerspruch und weitere Einsichten!

 

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