Die Digitalisierung ist ein komplexes technologisches und gesellschaftliches Phänomen. Entsprechend wird viel darüber debattiert, werden viele Heilsversprechen gemacht und gleichzeitig unzählige Klagen darüber geäußert. Wie alle großen technologischen Transformationen bringt auch diese viel Gutes und viel Destruktives hervor und da wir mitten in der Transformation leben, ist die Beurteilung der Entwicklungen nicht immer leicht.
Im schulischen Kontext herrschte vor einigen Jahren noch eindeutig die „Erhobener Zeigefinger“-Haltung vor. Viele Lehrer/innen warnten vor digitalen Medien und ihren negativen Folgen. Meinem Eindruck nach beruhten viele dieser Warnungen nicht auf umfassender Beschäftigung oder gar eigener Erfahrung mit digitalen Medien, sondern eher auf einer oberflächlichen Beobachtung von außen (wobei diese Aussage natürlich eine sehr grobe Generalisierung ist). Inzwischen erlebe ich bei vielen Kolleg/innen eine größere Offenheit bezüglich der Nutzung von digitalen Medien – sowohl im privaten als auch im schulischen Raum, so dass die grundlegende Ablehnung wohl zurückgeht.
Das bedeutet aber natürlich nicht, dass alle früheren Warnungen völlig grundlos waren und es keine Probleme gibt. Im Gegenteil zeigen sich durch Forschung und Analyse in verschiedenen Feldern von der Psychologie bis zur Politik, dass zahlreiche Aspekte der digitalen Transformation problematisch für Individuen und Gruppen und sogar für ganze Gesellschaften sein können.
Da es generell nicht schadet, sich mit einem Thema auszukennen, wenn man darüber (mit Schüler/innen) diskutiert, stelle ich hier einige Bücher vor, die sich mit eher negativen Aspekten der digitalen Transformation beschäftigen. Natürlich sind nicht alle denkbaren Themenbereiche abgedeckt, die Auswahl ist allein dadurch begründet, was ich in den letzten Monaten gelesen habe.
Sachbücher
Sarah Diefenbach und Daniel Ullrich: Digitale Depression – Wie neue Medien unser Glücksempfinden verändern
In diesem Buch beschäftigen sich die beiden Autoren hauptsächlich mit der Frage, wie sich Zufriedenheit und Glücksgefühl durch die Nutzung digitaler Medien verändern. Dabei greifen sie verschiedene Alltagssituationen auf und reflektieren, wie sich Gewohnheiten durch digitale Geräte verändert haben und welche Konsequenzen auf unser erlebtes Glück das hat. Die Kontexte sind meines Erachtens gut gewählt und weit verbreitet. Sie spiegeln sich in den einzelnen Kapiteln wider, z.B.:
- Technik verdrängt das direkt Glück – Wenn wir zwischen digitaler Dokumentation den Moment verpassen
- Technik bestimmt, was zählt – Selbstoptimierung bis zum Selbstverlust
- Ist mein Glück Facebook-tauglich – Soziale Netzwerke als Schablone für das erfolgreiche Leben
- Immer in Verbundenheit – Wenn die digitale Nähe uns gefangen nimmt
- Technik als Freifahrtschein – Wenn Technik uns von der Verantwortung für Respekt und Rücksichtnahme befreit
- …
Das Buch möchte nach Aussage der Autoren „Futter zum Nachdenken“ bieten und das gelingt meines Erachtens auch. Man findet sich oder selbst beobachtete Situationen in vielen Schilderungen wider und wird durch die Lektüre in der Tat zum Hinterfragen der geschilderten Handlungen angeregt. Durch die Häufung der Beispiele bekommt das Buch etwas die Stimmung der „Technikfeindlichkeit“. Diese kann man den Autoren allerdings nicht fundiert unterstellen – sie stellte sich bei mir eher als Gefühl ein, das in der Vielzahl der digital geprägten Alltagshandlungen begründet ist, die bei nüchterner Schilderung oft ziemlich skurril wirken (z.B. ein junges Paar küsst sich während ein Partner am ausgestreckten Arm ein Selfie macht).
Sarah Diefenbach hat Psychologie und Informatik studiert und forscht als Professorin an der LMU München über Mensch-Technik-Interaktion. Daniel Ullrich ist Post-Doc am Lehrstuhl für Medieninformatik der LMU München. Trotz des wissenschaftlichen Hintergrunds der beiden ist das Buch gut zugänglich, manchmal hätte ich es mir sogar etwas wissenschaftlicher gewünscht – den Ton fand ich teilweise zu plauderhaft.
Dennoch ist das Buch zu empfehlen, um sich selbst den Spiegel vorzuhalten und den eigenen Umgang mit digitalen Medien zu reflektieren. Man wird mitunter feststellen, dass Vieles, das man im Alltag inzwischen „normal“ findet, durchaus fragwürdig scheint, wenn man es schwarz-auf-weiß geschildert liest.
Catarina Katzer: Cyberpsychologie – Leben im Netz: Wie das Internet uns verändert
Das Buch von Catarina Katzer untersucht die Auswirkungen der allgegenwärtigen Netznutzung auf unsere Psyche und unser Verhalten. Es ist in vier große Abschnitte gegliedert:
- Das Internet als neues Koordinatensystem für unser Handeln
- Netzeffekte – Was online mit unseren Gefühlen, unserem Denken und unserem Verhalten passiert
- Das Internet als virtuelle Bühne
- Wege aus der Netzfalle – Wie wir zu kompetenten Cybernauten werden
Die Autorin untersucht Themen wie z.B. die Schwierigkeit, bei Online-Aktivitäten die Zeit nicht zu verlieren, die Empathielosigkeit, die sich bei vielen Online-Akteuren beobachten lässt oder auch die Tücken des Selbst-Trackings. Im letzten Teil zeigt sie Strategien für einen sinnvollen Umgang mit dem Netz auf.
Das Buch ist insgesamt wissenschaftlicher als „Digitale Depression“ (s.o.), Catarina Katzer schreibt sehr sachlich und nennt sehr oft konkrete Studien, die ihre Aussagen belegen, so dass man die Originalquellen finden kann. Während „Digitale Depression“ eher dazu dient, persönlich zu reflektieren, zeigt „Cyberpsychologie“ sachlich auf, welche psychologischen Probleme das ubiquitär Digitale empirisch nachweisbar mit sich bringt.
Als Grundlagenlektüre für ein möglichst breites Verständnis der digitalen Transformation ist das Buch meines Erachtens sehr zu empfehlen.
Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst
Der Titel von Jaron Laniers Buch lässt schon vermuten, dass der Autor keine halben Sachen (bzw. Argumente) macht. In zehn Kapiteln untermauert er seine These, dass Social Media Plattformen, wie sie nach heutigem technischen Design, Geschäftsmodell und Verbreitung existieren, so schädlich für Individuen und Gesellschaften sind, dass das Löschen der eigenen Accounts die einzige Lösung für individuelle Nutzer ist.
Lanier argumentiert zwar scharf, aber sachlich und fundiert, die meisten wichtigen Aussagen werden belegt. Viele Belege sind allerdings Artikel in Zeitungen oder Magazinen, so dass hier natürlich eine gewisse Vorsicht bezüglich der Glaubwürdigkeit geboten ist. Wenn z.B. über die empfundene Verlust von „Glück“ bei Teenagern nach Social-Media-Nutzung die Rede ist, wird auf einen Zeitungsbericht über eine entsprechende Studie verwiesen. Das scheint mir sehr indirekt zu sein zumal die Studienlage hier nicht eindeutig ist.
Was Lanier hervorragend gelingt, ist die Analyse der Funktionsweise von Social Media Plattformen und welche korrosiven Wirkungen diese haben können. Er verdichtet das zum Akronym „BUMMER“: Behaviours of Users Modified and Made into an Empire for Rent“. Das ist zugegebenermaßen ein etwas erzwungenes Akronym, aber die Analyse dahinter überzeugt: Netzwerke wie Facebook oder YouTube bauen ihren Erfolg darauf auf, die Benutzer in ihrem Verhalten zu beeinflussen (z.B. mehr Zeit auf der Plattform zu verbringen, Inhalte zu konsumieren, die vorgeschlagen werden etc.) und „vermieten“ die Aufmerksamkeit dieser Nutzer dann an Werbetreibende, die gezielt ihre manipulativen Botschaften platzieren können, um die Nutzer in ihrem Sinne zu beeinflussen. (Wer dieses System noch nicht auf dem Schirm hat oder diese Behauptung übertrieben findet, findet hier Beispiele: Einflüsse von soziale Medien verstehen).
So arbeitet sich Lanier durch zehn Aspekte z.B. „Social Media untergräbt die Wahrheit“, „Social Media macht das, was Du sagst, bedeutungslos“, „Social Media tötet Dein Mitgefühl“, „Social Media macht Politik unmöglich“, etc.
Auch wenn ich meine Accounts nicht gelöscht habe, sind Laniers Ausführungen überzeugend und augenöffnend. Selbst wenn man bisher kein naives Bild von Facebook und Co. hatte, werden Zusammenhänge deutlich, die einen dringenden Handlungsbedarf deutlich machen. Ich sehe allerdings den wichtigeren Ansatz bei der Regulierung oder Umgestaltung dieser Plattformen durch die Politik.
Laniers Buch ist auch deshalb bereichernd, weil es zahlreiche Anlässe für Diskussionen liefert, auch wenn sein Stil sehr amerikanisch ist und das in der Übersetzung oft eher stört (angefangen beim „BUMMER“ Akronym bis hin zu Überschriften wie „Social Media hasst Deine Seele“). Man muss nicht alle seine Schlussfolgerungen teilen, um mit diesem Buch seinen Horizont bezüglich der Wirkung von Social Media Plattformen zu erweitern.
Romane
Romane und Kurzgeschichten können manchmal ein Phänomen intensiver vermitteln als ein Sachbuch. Durch die Immersion in eine gute Geschichte erlebt man Situationen und Konsequenzen oft klarer und greifbarer. Die folgenden Romane sind meines Erachtens für die Lektüre mit Schüler/innen geeignet, um verschiedene Aspekte der Digitalisierung zu besprechen. Zwar stehen sie sicher nicht in einem Bildungsplan für Deutsch, aber man muss ja nicht nur das lesen, was der Plan vorschreibt – und außerdem kann man auch in Ethik oder Gemeinschaftskunde/Politik mal ein Buch zusammen lesen.
Dave Eggers: Der Circle
„The Circle“ ist das umfassende Social Network, eine Mischung aus Google, Facebook und Apple. Voller junger, erfolgreicher Menschen als Mitarbeiter, voller positiver Botschaften über die positive Wirkung offener Informationen. Die Protagonistin Mae Holland bekommt eine Stelle bei dieser Firma und arbeitet sich schnell hoch. Im Zuge ihrer Karriere verinnerlicht sie die Firmen-Ideologie vollständig und wird durch ihr eigenes Verhalten zur Botschafterin des „Circle“.
Der Roman ist sehr spannend und angenehm zu lesen und bietet eine Fülle von Anknüpfungspunkte für die Diskussion über die Wirkung von Social Media auf Menschen, auf Gesellschaften, über den Wert von Privatheit, über die Akzeptanz Andersdenkender etc. Ich habe meine unstrukturierten Notizen zur englischsprachigen Ausgabe hier gepostet. Der Roman kann gut ergänzt werden mit einigen Themen, die in diesen Videos dargestellt werden.
Marc Elsberg: Zero
In diesem Thriller soll die Reporterin Cynthia über einen Drohnenangriff auf den US Präsidenten recherchieren. Unbekannte haben es geschafft, mit kleinen Spionagedrohnen den Sicherheitsbereich des Präsidenten zu durchdringen. Cynthia und ihre Kollege bekommen von ihrem Chef zur Berichterstattung die neuen „Glasses“ – Datenbrillen mit sehr weitreichenden Fähigkeiten. Während der Recherche entdecken sie eine geheime und weitreichende Manipulation von Nutzern durch ein soziales Netzwerk, welche u.a. zum Tod eines Teenagers führt.
Der Roman ist sehr spannend und gut zu lesen. Er thematisiert die Manipulierbarkeit von Menschen durch die technischen Geräte und Dienste die sie nutzen und die Frage, was wir selbst steuern (können) und was nicht. Auch Fragen der Transparenz persönlicher Informationen, der Überwachung durch Staat und Firmen kommen vor und können diskutiert werden.
Tom Hillenbrand: Drohnenland
Kommissar Aart van der Westerhuizen ermittelt im Mordfall an einem Brüsseler EU-Parlamentarier. Der Roman spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der autonome Drohnen aller Art Teil des Alltag sind. So arbeitet z.B. die Polizei mit Aufklärungsdrohnen („Kolibris“), die einen Tatort vollständig erfassen und vermessen, so dass nur noch wenig Ermittlungsarbeit abseits des Schreibtischs nötig ist. Die Situation vor Ort können die Polizisten jederzeit aus den Video- und 3D-Archiven laden und sich selbst in die Szenerie „spiegeln“, um sich ein Bild der Lage zu machen. Bei diesem Fall jedoch passen Informationen nicht zusammen, was den Protagonisten auf den Plan ruft, doch den ein oder anderen Tatort selbst zu besuchen. Er deckt dabei weitreichende Manipulationen an den Daten und am zentralen Ermittlungscomputer auf.
Dieser Krimi ist auch eine sehr spannende und unterhaltsame Lektüre, die in eine Welt führt, in der der Staat fast unbegrenzten Zugriff auf private Daten hat und die komplette Überwachung des öffentlichen Lebens Normalität ist. Daraus ergeben sich interessante Diskussionsmöglichkeiten, da diese Überwachung einerseits Polizeiarbeit erleichtert, andererseits aber auch die weitreichende Manipulation, um die es im Buch zentral geht, erst möglich macht: die Polizisten sehen die von den Drohnen am Tatort erfassten Daten als „Wahrheit“ an.
Marc-Uwe Kling: QualityLand
In Qualityland ist alles von Algorithmen optimiert: Arbeit, Freizeit, Beziehungen. Es gibt nur noch einen nennenswerten Online-Shop („TheShop“), der einem Produkte zuschickt, bevor man sie bestellt, weil der Algorithmus schon weiß, was man haben möchte. Der Protagonist Peter Arbeitsloser – aus Gründen der Einfachheit bekommt jedes Kind als Nachnamen den Beruf des Vater zum Zeitpunkt der Geburt – schlägt sich als Maschinenverschrotter durch, aber als sein SocialRank unter 10 fällt, wird es offiziell zum „Nutzlosen“, was ihm eine Menge Probleme macht. Und dann bekommt er von TheShop noch ein Produkt, bei dem er sich sicher ist, dass er es nicht haben möchte. Die Rückgabe gestaltet sich allerdings schwierig.
Qualityland ist ein wunderbar grotesker Roman über die Auswüchse der Digitalisierung. Alle Trends, die wir heute beobachten oder erahnen, sind bis ins Extrem gesteigert und werden von Marc-Uwe Kling sehr witzig dargestellt. So gelingt es, eine eigentlich tragische Gesellschaftsentwicklung in einem unterhaltsamen Buch zu verpacken, das man wirklich gerne liest.
Auch hier ergeben sich zahlreiche Diskussionsgelegenheiten über die „Optimierung“ von Abläufen mit Hilfe von Algorithmen, über die Abtretung von Verantwortung an „Systeme“, über Mitmenschlichkeit und Liebe in Zeiten von Datingplattformen, über politische Meinungsbildung etc.
Das Buch gibt es in einer hellen und einer dunklen Variante: In der Hellen mit erfreulichem, in der dunklen mit tragischem Ende.
Fazit
Ich hoffe, durch diese kleine Übersicht ein paar Anregungen für die eigene Meinungsbildung und auch für die Diskussion mit Schüler/innen gegeben zu haben. Natürlich geht es mir nicht darum, die Nutzung digitaler Dienste oder Geräte zu Verteufeln – das sollte klar sein, wenn man meine hier veröffentlichten Unterrichtskonzepte liest.
Allerdings halte ich es für wichtig, dass v.a. digital-affine Menschen nicht so tun, als sei alles nur Friede – Freude – Eierkuchen. Eine ausgewogene schulische und gesellschaftliche Debatte muss auch kritische Sichtweisen enthalten.
Viel Spaß beim Lesen!
Hallo Andreas,
Da habe ich auch noch Lesetipps:
Shoshana Zuboff – Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus
Nir Eyal – Hooked
Marc Elsberg – Gier
Yuval Noah Harari – Homo Deus
Zuboff z.B. würde über andere kritische Bücher und Autoren sagen (bestimmt auch über Lanier), dass diese hinter der Puppe (Technologie) her sind, es uns als Gesellschaft aber viel mehr um die Jagd auf den Puppenspieler (Logik der Technikimplementierung) gehen muss. Man kann Spiele und soziale Netzwerke mit anderen Logiken dahinter auch ganz anders bauen. Dass man es nicht tut, hat für sie Gründe, die sehr viel mit Marktlogik zu tun haben, die aus Gutenbergzeiten importiert wurden.
Vielen Dank für die Ergänzungen, Maik! Die schaue ich mir gerne mal an.
Lanier ist sich auch bewusst, dass das Löschen von Accounts nur eine temporäre Lösung sein kann, bis – aus seiner Sicht – die Netzwerke entweder auf andere Geschäftsmodelle umgestiegen sind oder die jetzigen Plattformen durch neue ersetzt wurden.