(2) Offenere Unterrichtsformen – Corona-Lernprobleme überwinden

Flexiblere Unterrichtsformen können einen Beitrag dazu leisten, die in der Corona-Zeit entstandenen Lernprobleme von Schüler:innen zu bewältigen.

In der Corona-Zeit sind die meisten Lerngruppen heterogener geworden: manche Schüler:innen konnten im Fernunterricht gut lernen und haben „Schritt gehalten“ während andere mit verschiedenen Problemen zu kämpfen hatten und nun im Vergleich zu ihren Mitschüler:innen „hinten dran“ sind. (Ich schreibe diese Begriffe in Anführungszeichen: im hergebrachten Schulparadigma gelten sie an vielen Schulen nach wie vor, allerdings sollte das „Lernen im Gleichschritt“ meines Erachtens generell hinterfragt werden – für den Augenblick müssen viele Beteiligte jedoch im hergebrachten Paradigma agieren).

Wenn ich als Lehrer:in mit dieser Heterogenität im Klassenzimmer konfrontiert bin, ist das zunächst eine Herausforderung: eine klassische durchstrukturierte Stunde lässt üblicherweise nur wenig Zeit und Raum, um sich mit einzelnen Schüler:innen längere Zeit zu befassen. Genau das wäre aber nötig, um gezielt zu helfen.

Offene Unterrichtsgestaltung als ein Lösungsansatz

Eine Lösung können offenere Unterrichtsformen sein: mit längeren Phasen von eigenständigem Lernen der Schüler:innen, die sich mit Austauschphasen in kleinen Gruppen sowie dem Austausch und der Anwendung des Gelernten im Plenum abwechseln. Das kann z.B. so aussehen:

  1. Man steigt in ein Thema gemeinsam im Plenum ein, zeigt den Schüler:innen die Relevanz des Thema auf und verdeutlicht, in welche Teilthemen es sich gliedern lässt.
  2. Dann erhalten die Schüler:innen einen Lernauftrag und Materialien, mit denen sie arbeiten können. Nun arbeiten sie – je nach Alter, Fach, Thema und vorhandener Erfahrung mit dem eigenständigen Lernen – eine Zeit lang (eine halbe Stunde bis mehrere Doppelstunden) mit den Materialien an dem Thema und erstellen für sich ein Lernprodukt, z.B. einen Aufschrieb, ein Strukturdiagramm etc.
  3. Während dieser Zeit hat die Lehrperson den Freiraum, bei jeder Schülerin und jedem Schüler „vorbeizuschauen“, sich nach dem Arbeitsstand zu erkundigen, Fragen zu beantworten, Hilfestellung zu leisten etc.
  4. Am Ende der Arbeitsphase tauscht man sich über das Gelernte aus. Entweder direkt im Plenum oder auch zunächst in kleinen Gruppen, die z.B. Anwendungsaufgaben lösen, um zu prüfen, ob sie die Inhalte gut verstanden haben.
  5. Eine abschließende Plenumsrunde kann z.B. dazu dienen, gedanklich den nächsten Schritt zu entwickeln, Inhalte kritisch zu hinterfragen, Transferaufgaben zu bearbeiten etc.
  6. Schließlich sollte sich z.B. eine methodische Reflexion anschließen, in der man z.B. verschiedene Lernprodukte miteinander vergleicht und überlegt, ob und inwiefern sie gelungen oder weniger gelungen sind. So lernen die Schüler:innen auch, eigenständig zu lernen und sich dabei eigene Lerndokumentationen zu erstellen, die idealerweise immer besser werden, weil sie mit jeder freien Lernrunde neue Tipps anwenden und Feedback von ihren Mitschüler:innen und der Lehrperson erhalten können. Auch Probleme mit der Selbstdisziplin während der freien Phase können hier nun angesprochen werden – im Austausch mit den Mitschüler:innen kann man überlegen, woher diese Probleme kommen und wie man mit ihnen umgehen kann.

Auf diese Art kann individuelles Lernen mit dem aus meiner Sicht sehr wichtigen sozialen Austausch mit der Lerngruppe kombiniert werden. Außerdem lernen sie inhaltliche und methodische Kompetenzen sinnvoll verschränkt.

Lerngruppen, die mit dieser Arbeitsweise weniger Erfahrung haben, kann man durch zunächst kürzere, dann immer längere Selbstlernphasen schrittweise an die offenere Form heranführen und gleichzeitig in der Reflexion dabei helfen, mit der freieren Form sinnvoll umzugehen.

Hier ein Beispiel aus dem Geographie-Leistungskurs der Kursstufe 1 (Baden-Württemberg, Klassenstufe 11). Diese Lerngruppe hatte zuvor bereits einige Male auf diese Art gearbeitet.

Wenn man im gemeinsamen Einstieg die Relevanz des Themas aufzeigt, wenn die Schüler:innen z.B. die Zeiteinteilung, das verwendete Material, die Form des Lernprodukts selbst beeinflussen können und wenn sie durch die Reflexion von Inhalt und Methoden sich stetig verbessern können, sind die im ersten Artikel genannten Kriterien für möglichst hohe Motivation gegeben.

Aus meiner Erfahrung kann ich bestätigen, dass in der Tat viele Schüler:innen sehr motiviert arbeiten, nachdem die Anfangshürden überwunden sind: Man muss bedenken, dass die meisten Schüler:innen es gewohnt sind, in kleinen Schritten angeleitet zu werden. An das eigenständige Strukturieren der eigenen Zeit und Aufgaben müssen sich viele erst gewöhnen. Nach einiger Zeit und individueller Hilfestellung können es sehr viele dann aber genießen, mehr Freiheit zu haben und sind entsprechend motiviert.

Schrittweise weiter

  1. Je nach Gestaltung des Themas und der Lernaufträge kann man schrittweise von eher „engeren“ Aufgabenstellungen hin zu Aufgaben kommen, die die 4K-Kompetenzen Kreativität, Kritisches Denken, Kollaboration und Kommunikation stärker berücksichtigen.
  2. Ein weiterer Öffnungsschritt wäre das Lernen in Projekten, die den Schüler:innen noch mehr Gestaltungsspielräume bieten und gleichzeitig auch mehr Selbststrukturierung und Verantwortung erfordern.

Hybridunterricht zur individuellen Betreuung

Eine weitere Möglichkeit, durch flexible Unterrichtsformen besser individuell unterstützen zu können, sind hybride Unterrichtsformen aus Präsenzstunden einerseits und Sprech- oder Übungsstunden z.B. am Nachmittag per Videokonferenz andererseits. In diese Videokonferenz-Stunden können z.B. Schüler:innen freiwillig kommen, wenn sie Hilfe brauchen oder sie werden explizit einbestellt, wenn klar wird, dass sie die Übungszeit nutzen sollten. Die Schüler:innen, die gut ohne Hilfe lernen können, müssen nicht (immer) anwesend sein und gewinnen dadurch weitere Flexibilität und Freiheit. Gleichzeitig hat die Lehrperson mehr Zeit und Raum, sich um die zu kümmern, die tatsächlich Unterstützung brauchen.

Dieses Modell bedarf natürlich einer grundlegenden Umstrukturierung der Stundentafel sowie der Anrechnungszeiten von Lehrerstunden uns ist daher eine größere Schulentwicklungsaufgabe. Als Konzept halte ich es jedoch für vielversprechend und möchte es daher hier erwähnen.

Fazit

Die dargestellten Unterrichtsformen verfolgen zwei Ziele:

  1. Durch diese Organisation des Unterrichts entstehen zeitliche Freiräume, die es der Lehrperson erlauben, die Schüler:innen individueller zu betreuen und so auf heterogene Leistungsstände angemessen einzugehen.
  2. Gleichzeitig erarbeiten sich die Schüler:innen mit zunehmender, begleiteter Öffnung des Lernens zentrale Kompetenzen wie die Fähigkeit, selbständig zu lernen, sich zu organisieren, sinnvolle Aufschriebe anzufertigen und eigenständig Ziele zu verfolgen.

Das selbstgesteuerte Lernen ist dabei eingebettet in den regelmäßigen Austausch mit Kleingruppen von Mitschüler:innen und mit der ganzen Lerngruppe, was die soziale Interaktion fördert und das Eingebundensein in diese Gruppe sicherstellt.


In dieser Artikelserie geht es um die Frage, wie Schulen ihren Schüler:innen helfen können, Lerndefizite aus der Corona-Zeit zu kompensieren und dabei auch das Lernen insgesamt zu verbessern. Der erste Artikel enthält eine Einführung und die Liste aller Beiträge.

4 Gedanken zu „(2) Offenere Unterrichtsformen – Corona-Lernprobleme überwinden“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert