Überall in Deutschland wird gerade die Frage gestellt, wie Schulen auf die „Lernrückstände“ reagieren müssen, die sich bei Schüler:innen während der Corona-Pandemie eingestellt haben. Dabei ist das Spektrum der vorgetragenen Ideen erstaunlich eng und phantasielos: von der „Nachhilfe-Milliarde“ ist z.B. die Rede und meist geht es un das „Aufholen von Stoff“. Das ist etwas dürftig und kurz gedacht, wie ich finde. Im Tagesspiegel schaut Ekkehard Thümler auf die Situation in anderen Ländern, konkret auf die USA, die Niederlande und Großbritannien, und kommt u.a. zu der Erkenntnis:
Doch es gibt auch eine Reihe wichtiger Unterschiede. So liegen in den drei genannten Ländern bereits Erkenntnisse zum Lernstand der Kinder vor, an die alle Maßnahmen anknüpfen sollen. Zudem wird die Bedeutung wissenschaftlich fundierter, nachweislich wirksamer Programme betont. Bemerkenswert ist außerdem, dass die Unterstützung sich nicht auf rein schulische Maßnahmen beschränkt, sondern auch soziale Bedarfe berücksichtigt.
Hier werden schon zentrale Aspekte sichtbar: zunächst ist z.B. eine sinnvolle, nicht bewertende Diagnose wichtig, die Wirksamkeit der Maßnahmen muss sichergestellt werden (und dazu gibt es in vielen Fällen empirische Daten) und es geht bei Weitem nicht nur um rein unterrichtliche Fragen, sondern auch um soziale und Entwicklungsaspekte.
In der Pandemie mussten wir leider erfahren, dass u.a. viele Kultusministerien wenig Neigung haben, wissenschaftliche Expertise tatsächlich handlungsleitend zu machen. Außerdem neigen sie Schulen gegenüber eher zu Vorgaben und Kontrollen als dazu, flexible Angebote zu machen und dann Schulen eigenverantwortlich entscheiden zu lassen. Insofern steht zu befürchten, dass viele Schulen sich selbst viele Gedanken machen (müssen), um ihre Schüler:innen möglichst gut aus der Covid-Krise heraus zu begleiten, denn auf das, was „von oben“ kommt, sollte man nicht hoffen.
In dieser Artikelserie möchte ich einige Ideen darstellen, worauf man dabei achten könnte. Den Anfang macht die Motivation. Danach wird es um die Umgestaltung des Unterrichts gehen, um Empathie und pädagogische Phantasie, außerdem um Diagnose und Bewertung, um Nachhilfe und um Coaching – und schließlich spielen auch die nun überall aufgestockten digitalen Geräte noch eine wichtige Rolle.
Motivation
Die Lernmotivation ist ein zentraler Aspekt bei der Bewältigung der coronabedingten Lernkrise vieler Schüler:innen. Sie in den Blick zu nehmen, kann alle anderen Maßnahmen deutlich wirksamer machen.
Motivation ist ein Dreh- und Angelpunkt des Lernens. Das wissen wir alle aus eigener Erfahrung: Wenn ich motiviert bin, kann ich sehr viel in sehr kurzer Zeit lernen, wenn die Motivation hingegen fehlt, kann ich stundenlang mit einem Thema verbringen ohne nennenswerte Fortschritte zu machen.
Nehmen wir an, ich möchte junge Obstbäumchen beim Wachsen unterstützen. Ohne Motivation seitens der Bäumchen ist das ungefähr diese Situation:
Die Voraussetzungen sind karg, ich muss von außen jede Menge Ressourcen „zuschießen“ und dennoch sind die Aussichten auf Gedeihen sehr mager. Das „Motivationsloch“ saugt die Ressourcen unproduktiv auf, ohne dass die Bäumchen nennenswert wachsen.
Wenn jedoch eigene Motivation der Bäumchen dazu kommt, sieht die Situation eher so aus:
Boden, Klima und die Umgebung sind schon mal gut dazu geeignet zu wachsen und zu blühen. An einigen Standorten haben die Bäumchen zwar ein paar Herausforderungen zu überwinden: zu steinig, zu dunkel, im Winter ist durch die Schneelast ein Ast abgebrochen. Aber wenn hier Hilfe dazu kommt, trifft sie auf gute Voraussetzungen und die Bäumchen können sich individuell entfalten.
Über die Motivation der Schüler:innen wird erstaunlicherweise bisher kaum gesprochen, man geht irgendwie davon aus, dass beispielsweise durch das Angebot von Nachhilfe automatisch „Lernlücken“ „geschlossen“ werden könnten. Dabei muss man sich zunächst mal fragen, ob Schüler:innen, die während der Corona-Zeit das Gefühl entwickelt haben, abgehängt und mit einem Fach überfordert zu sein, überhaupt die Motivation aufbringen können, hier zusätzlich Zeit zu investieren.
Mein Beispiel mit den Obstbäumchen hinkt natürlich an einer zentralen Stelle: In meinem Bild sind es externe Rahmenbedingungen, die das Wachsen fördern, im Fall der Motivation ist diese aber eine Haltung der Lernenden selbst. Aber wo kommt sie her und wie kann man sie fördern?
Dazu gibt es empirische Erkenntnisse aus der Psychologie, die z.B. Daniel Pink in seinem Buch „Drive“ auf den Punkt bringt.
When it comes to motivation, … the science shows the way. This new approach has three essential elements: (1) Autonomy—the desire to direct our own lives; (2) Mastery—the urge to get better and better at something that matters; and (3) Purpose—the yearning to do what we do in the service of something larger than ourselves.
(Daniel Pink, „Drive – The Surprising Truth About What Motivates Us, Canongate Books 2010, Kindle Edition, S. 203)
Pinks Fokus liegt auf der Geschäftswelt, aber die Erkenntnisse aus der Psychologie gelten auch für junge Menschen und lassen sich auf die Schule übertragen. Motivation entsteht demnach dort,
- wo Schüler:innen einen gewissen Grad an Selbststeuerung und Freiheit erfahren („Autonomy“),
- wo sie Wissen und Fähigkeiten entwickeln und kontinuierlich verbessern können in Bereichen, die sie für sinnvoll und wichtig erachten („Mastery“),
- wo die Bedeutung, die Ziele und der Zweck des Lernens klar sind („Purpose“).
Alle drei Aspekte lassen sich nicht von heute auf morgen etablieren.
- Der sinnvolle Umgang mit Selbststeuerung und Freiheit muss gelernt werden, v.a. für Schüler:innen die in einem eher auf Kontrolle und Zwang basierenden Schulsystem sozialisiert wurden.
- Das Entwickeln der eigenen Kompetenzen ist ein langfristiger und vielschrittiger Prozess, der unterstützt und begleitet werden muss. Unter anderem wird man mit vielen Schüler:innen zunächst daran arbeiten müssen, dass sie in den problematischen Fächern wieder das Gefühl bekommen, das überhaupt schaffen zu können.
- Die Bedeutung und die Ziele von Bildung und Schule für jede:n einzelne:n Schüler:in lassen sich nicht „mal eben schnell“ kommunizieren, sie müssen auf lange Sicht gemeinsam herausgearbeitet und immer wieder erfahren werden. Schon dadurch ergibt sich die Notwendigkeit, dass die jetzt erdachten Programme zur Förderung der Schüler:innen mindestens auf mehrere Jahre oder besser noch dauerhaft angelegt sind.
Die Selbststeuerung erfordert eine Umgestaltung des Unterrichts in vielen Bereichen, idealerweise auch längerfristig eine Neukonzeption von Bildungsplänen und Prüfungsformen. Dazu später in dieser Serie mehr.
Das kontinuierliche Arbeiten an Wissen und Fähigkeiten wird in den nächsten Jahren noch stärker individualisiert werden müssen, denn während der Corona-Zeit sind viele Lerngruppen noch heterogener geworden, als sie das ohnehin schon waren. Hier wird es zunächst darauf ankommen, diese Unterschiede zu erkennen, ihre Ursachen zu ergründen (Spoiler: es gibt zahlreiche mögliche Ursachen), und dann mit Unterstützungsmaßnahmen dabei zu helfen, dass Schüler:innen wieder selbstwirksames Lernen erleben.
Schließlich muss die Schule sich fragen, was denn ihr Ziel und Zweck ist. Unterstützt der Unterricht und das, was außerhalb des Unterrichts an der Schule angeboten wird, die Schüler:innen dabei, selbstwirksame, empathische und kompetente Menschen zu werden, die komplexe Probleme verstehen und gemeinschaftlich lösen können? Falls ja gilt es, das den Schüler:innen zu kommunizieren und vorzuleben. Falls nein, sind begleitend zu den kurzfristigen Hilfen für Schüler:innen auch Reflexion und Schulentwicklung nötig, um die Ausrichtung der Schule an relevanten Zielen sicherzustellen. (Natürlich wäre das auch eine Frage für die höheren Organisationsebenen des Schulsystems, aber um die soll es in dieser Artikelserie nicht gehen).
Fazit
Wenn man die Corona-Krise zum Anlass nimmt, die Lernmovitation der Schüler:innen konsequent in den Blick zu nehmen, ergeben sich durch den Fokus auf Selbststeuerung, kontinuierlichen Kompetenzzuwachs und die Ziele des Lernens mögliche Maßnahmen und Schulentwicklungswege, die Schule als ganzes besser machen und gleichzeitig bei Schüler:innen für mehr Lernmotivation sorgen können.
In dieser Artikelserie geht es um die Frage, wie Schulen ihren Schüler:innen helfen können, Lerndefizite aus der Corona-Zeit zu kompensieren und dabei auch das Lernen insgesamt zu verbessern.
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2 Gedanken zu „Corona-Lernprobleme überwinden – (1) Die Motivation der Schüler:innen“