(5) Mehr Diagnose und Feedback, weniger Bewertung – Corona-Lernprobleme überwinden

Um Schüler:innen mit Lernproblemen angemessen helfen zu können, muss zunächst klar sein, was sie können und was nicht. Außerdem sollten Schüler:innen das auch möglichst genau verstehen. Eine Diagnose des Lernstands und möglichst konkretes Schüler:innen-Feedback darüber ist daher wichtig. Die Bewertung sollte erst in einem weiteren Schritt erfolgen.

Als erste Schüler:innen im Frühjahr 2021 wieder in Präsenz Unterricht hatten, kam an vielen Schulen bald darauf die Ankündigung, nun ja auch wieder Klassenarbeiten zu schreiben. Einerseits ist das verständlich, denn im vorgegebenen Regelwerk der Kultusministerien kann das Schuljahr nicht zu Ende gehen, ohne dass man am Ende ein Zeugnis ausstellt und in diesem müssen Noten stehen. Als Lehrer:in weiß man, dass man Eltern und Schüler:innen gegenüber angreifbar ist, wenn diese Noten nicht auf schriftlichen Leistungen beruhen.

Soweit, so problematisch. Denn nach Monaten des Fernunterrichts sind viele Schüler:innen sehr verunsichert bezüglich ihrer Fähigkeiten oder sie wissen vielleicht sogar definitiv, dass sie in diesem oder jenem Fach nicht gut mitgekommen sind. Es gab ein sehr breites Spektrum verschiedener Formen von Fernunterricht: vom kommentarlosen Schicken von Arbeitsblättern bis hin zu regelmäßigem 1:1-Austausch mit der Lehrperson. In manchen dieser Szenarien konnten die meisten Schüler:innen gut lernen, in anderen konnten das nur die Besten.

Außerdem hatte für viele Schüler:innen der Lockdown zumindest den einen Lichtblick, dass der Leistungs- und Prüfungsdruck mal für einige Wochen aufgehoben war, was viele genossen haben. Möglicherweise haben einige auch verdrängt, dass dieser Druck zurückkommen würde – umso härter traf sie die Erkenntnis, dass die Leistungsüberprüfungen schon bald nach dem Wiederbeginn der Präsenz wieder geschrieben werden sollten. Manche Schulen bestellten sogar ganze Klassen aus dem Fernunterricht ein, nur um Klassenarbeiten zu schreiben, teilweise bei Inzidenzwerten, die eigentlich reinen Fernunterricht erfordert hätten.

Der Kollege Frank Zinecker brachte die Kritik an dieser Situation aus meiner Sicht sehr gut auf den Punkt:

Wir haben uns als Lehrer zurecht sehr darüber aufgeregt, dass #schule von vielen eher als Betreuungsort denn als Bildungsstätte gesehen wird. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nun selbst als Bildungsort und nicht als Klassenarbeitsdurchführungsanstalt begreifen und so auftreten

Frank Zinecker, 01.05.2021

Wenn Schüler:innen im Lockdown Probleme mit dem Lernen, mit Selbstdisziplin und Strukturierung hatten, dann wird Notendruck die allermeisten nicht produktiv anspornen, sondern lähmen. Viele sehen sich einem Berg von Arbeit und Themen gegenüber, bei dem sie keine Ahnung haben, wie sie ihn bewältigen sollen. Zudem wissen sie womöglich gar nicht, was sie eigentlich genau können und was nicht, denn nach einer gewissen Zeit des „Schleuderns“ kann sich ein ganzes Fach einfach nur noch diffus und unklar anfühlen.

Der erste Schritt bei der Bewältigung dieses Problems wäre also die Diagnose, was man kann und was nicht, so dass man anschließend gezielt an den Themen arbeiten kann, die man noch nicht verstanden hat. Außerdem hat eine möglichst genaue Diagnose den Vorteil, dass man als Schüler:in in der Regel erkennt, dass man auch etwas kann, selbst wenn es sich zuvor nicht so angefühlt hat (kaum jemand hat gar nichts verstanden). Diese Diagnose sollte aber ohne Bewertung erfolgen, sondern rein informativ sein, damit sie ohne psychischen Druck zur Kenntnis genommen werden kann.

Wenn Schüler:innen dann daran arbeiten, fehlende oder schlecht verstandene Inhalte oder nicht entwickelte Fähigkeiten zu erarbeiten, sollten sie außerdem möglichst direktes Feedback bekommen, was sie gut machen und was sie noch verbessern sollten.

Wenn dann wieder eine gewisse Sicherheit herrscht und die Schüler:innen wieder Fuß gefasst haben, sind die im Rahmen der rechtlichen Vorgaben nötigen Leistungsüberprüfungen dann sicherlich auch in Ordnung. Für nicht wenige Schüler:innen sind die Noten auch Ansporn – sofern sie die Chance sehen, die Anforderungen gut bestehen zu können.

Formen von Diagnose und Feedback

Diagnose und Feedback können unterschiedlichste Formen haben. Im einfachsten Fall könnte man „Probeklassenarbeiten“ schreiben, in denen übliche Aufgaben dran kommen, die aber nicht benotet werden. So erhalten Lehrer:in und Schüler:innen einen Einblick, welchen Leistungsstand jede:r gerade hat.

Besser wären Formen, die einerseits trennschärfer einzelne Themen und Fähigkeiten überprüfen und die sich andererseits weniger wie bereits bekannte Prüfungsformate anfühlen, weil auch das Gefühl einer Klassenarbeit bei Einigen schon lähmenden Druck erzeugen könnte. Generell sollte man sich das breite Spektrum formativer Evaluationsmöglichkeiten anschauen und dieses kreativ einsetzen. Am besten abgestimmt mit einer ganzen Fachbereich oder mit der ganzen Schule.

Auch das Feedback sollte möglichst spezifisch und klar sein. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wenig Schüler:innen oft mit Korrekturzeichen und schriftlichen Lehrer:innen-Anmerkungen am Rand anfangen können, selbst wenn man sie ausführlich erklärt. Inzwischen habe ich z.B. gute Erfahrungen mit Audio-Feedback gemacht, das Schüler:innen sich anhören können, während sie das „befeedbackte“ Lernprodukt vor sich haben. Ein praktisches Tool für Audiofeedback ist Qwiqr, außerdem hat der Kollege Christian Mayr gerade die neue Feedback-App hyFee herausgebracht, mit der man das Feedback über eine eigene Nextcloud kommunizieren kann. Wie so oft erleichtert der souveräne Einsatz digitaler Geräte das Geben von Feedback enorm, weil die nicht-papiernen Kommunikationswegen deutlich einfacher zu organisieren sind.

Zeit

Ein Problem ist natürlich, dass diese Diagnose- und Feedbacktätigkeiten Zeit brauchen, die im Schulalltag schwer aufzutreiben ist. Ein Lösungsansatz sind die offeneren Unterrichtsformen, die solche Zeitfenster ermöglichen können. Als Schule findet man möglicherweise durch pädagogische Phantasie auch noch zeitliche und organisatorische Modelle, mit denen sich Diagnose und Feedback bewältigen lassen.

Noch besser wäre es natürlich, wenn die Schulverwaltungsebenen oberhalb der Schulen durch zusätzliche Lehrer:innen-Stellen, Sozialarbeiter:innen etc. für zeitliche Entlastung sorgen würden.

Bewertung

Bei der Bewertung von Leistungen sollten wir uns möglichst bald mit alternativen Prüfungsformaten befassen. Natürlich kann man klassische Formate noch lange nicht ignorieren, da sie in Abschlussprüfungen ja auch zum Einsatz kommen (und das vermutlich noch länger). Dennoch wäre in Ergänzung dazu bei der Leistungsfeststellung auch wieder pädagogische Phantasie hilfreich, so dass Formate gefunden werden, die ein breiteres Spektrum an Kompetenzen abbilden, die in der Regel weniger Druck erzeugen als klassische Formate und die außerdem näher an den Anforderungen und Aufgaben dran sind, die unsere Schüler:innen nach Abschluss ihrer Schulzeit in der Arbeitswelt erleben werden.

Glücklicherweise muss man sich das nicht alles neu ausdenken, da es bezüglich zeitgemäßer Prüfungskultur schon viele gute Ideen gibt.

Fazit

Wertungsfreie Diagnose über den Lernstand und entsprechendes Feedback an die Schüler:innen sind zentral dafür, dass Schüler:innen ihre Lernprobleme gezielt und konstruktiv bewältigen können, ohne durch zu frühen Prüfungsdruck zusätzlich belastet zu werden. Leistungsüberprüfungen können als Perspektive in vielen Fällen auch Ansporn sein, sollten aber maßvoll gesetzt und in der Vorbereitung gut begleitet werden.


In dieser Artikelserie geht es um die Frage, wie Schulen ihren Schüler:innen helfen können, Lerndefizite aus der Corona-Zeit zu kompensieren und dabei auch das Lernen insgesamt zu verbessern. Der erste Artikel enthält eine Einführung sowie die Liste aller Beiträge.

2 Gedanken zu „(5) Mehr Diagnose und Feedback, weniger Bewertung – Corona-Lernprobleme überwinden“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert