Freie Lernmaterialien in der Schule #OER

Herr L. schaut auf das Display seines Notebooks. Er sichtet das Material zum Jetstream, das er kommende Woche in der zehnten Klassen in Geographie verwenden möchte. Es ist auf dem Landesbildungsserver seines Bundeslandes frei zum Lesen zugänglich. Die Texte und Abbildungen sagen ihm zu, sie entsprechen gut dem Leistungsniveau der meisten Schüler in der 10a. Allerdings gibt es einige Schüler in dieser Lerngruppe, die sehr interessiert an Geographie sind und die gerade zur Zeit beim eher anspruchsvollen Thema »Allgemeine Zirkulation der Atmosphäre« Feuer gefangen haben. Sie bombadieren ihn immer mit Fragen und recherchieren Unterrichtsinhalte im Netz nach, um zum Beispiel das aktuelle Wetter zu verstehen. Für die möchte er noch einige vertiefende Elemente in die Materialien einbauen.

Er loggt sich in das Redaktionssystem des Landesbildungsservers ein und klickt »Bearbeiten«. Zunächst liest er den Haupttext noch einmal gründlicher. Viele Formulierungen erkennt er als seine eigenen. Er hatte beim letzten Durchgang des Themas im vorigen Schuljahr schon den Hauptteil des Textes und zwei einfache Abbildungen beigesteuert. Inzwischen haben offenbar andere Kollegen an seinen Formulierungen gefeilt und Textteile ergänzt. Eine seiner Abbildungen wurde durch eine deutlich ausgefeiltere ersetzt. Er schaut in die Versionshistorie: Eine Kollegin aus Niedersachsen hat sie beigesteuert. Er freut sich – er kann sehr gut formulieren, aber im grafischen Bereich ist er nicht sehr talentiert. Für einfache Skizzen reicht es allemal, aber die Kollegin hat offenbar ein Händchen für die Gestaltung von grafischen Inhalten. Die Abbildung ist von professioneller Qualität.

Für die interessierten Schüler hat er sich zwei vertiefende Aufgaben überlegt und im Netz ein Video gefunden, das einen Teilaspekt der Entstehung von Zyklonen an der Westwindzone vertieft. Das möchte er nun in das Material einarbeiten. Er bindet das Video ein. Im Hintergrund macht die Software eine Kopie, damit das Video nicht plötzlich verschwindet, falls der ursprüngliche Autor es aus dem Netz nehmen sollte. Dass das rechtlich geht, ist ein Segen. Seit der Änderung des Urheberrechts dürfen Materialien für den Bildungsbereich sehr viel freier verwendet werden. Er erinnert sich noch, wie frustrierend es früher war, als er oft tolles Material im Netz fand, das er dann aber nicht verwenden durfte.

Da das Video über den üblichen Leistungsstand der meisten Schüler hinaus geht, macht er einen »fork« von dem Dokument. Das ist eine verbundene Kopie, die zunächst nur er Bearbeiten kann. Das Originaldokument bleibt weiterhin erhalten, seine »Abspaltung« basiert darauf, kann nun aber von ihm angepasst werden. Er markiert die Teile des Materials, die er weiterhin mit dem Basismaterial gekoppelt haben möchte: Den Hauptteil des Textes und die beiden Abbildugen. Durch das Koppeln bleiben diese Elemente mit dem Basismaterial verbunden. Wenn sie jemand dort verbessert, erscheinen die Änderungen automatisch in seinem »fork«. Lediglich den Schlussteil entkoppelt er, um eine Überleitung für das vertiefende Material zu formulieren und sein Video einzubinden. Diese Teile sind nun von Änderungen im Basismaterial nicht mehr betroffen.

Herr L. klickt »Speichern…«. Er betrachtet den Speichern-Dialog. Hier kann er nun verschiedene Parameter einstellen. Er prüft die thematische Einordnung, den Status des Dokuments, die Schlagwörter. Er ergänzt das Schlagwort »zyklone«, weil dieser Aspekt vorher im Dokument nicht angesprochen wurde. Außerdem setzt er den Status seines abgespaltenen Dokuments auf »öffentlich«. Im Kommentarfeld für diese Version des Dokuments notiert er »vertiefende Informationen zu Zyklonen«. Falls andere Kollegen ebenfalls starke Schüler in ihren Lerngruppen haben, können sie seine Version des Materials nun ebenfalls nutzen. Sie finden einen Hinweise darauf am Fuß des Basismaterials, wo alle Abspaltungen mit einem kurzen Kommentar aufgelistet werden. Er setzt die Rechte des Dokuments für andere Nutzer auf »Nur lesen und kopieren«. Damit kann er sicherstellen, das sein Material so bleibt, wie er es jetzt erstellt hat. Jeder andere Kollege kann aber – wie er zuvor – einen »fork« anlegen (gekoppelt oder nicht) und entsprechend mit seinen Beiträgen weiterarbeiten. Die Creative Commons Lizenz, unter der alle Beiträge auf dem Landesbildungsserver stehen, schafft dafür die Voraussetzungen.

Er liest den Text noch einmal durch und korrigiert einen Rechtschreibfehler, der ihm vorher nicht aufgefallen war. Da er sich in dem Teil des Textes befindet, der gekoppelt aus dem Basismaterial stammt, hat er dieses damit verändert. Das hat dessen Status automatisch auf »Zur Prüfung anstehend« gesetzt. Die Software hat erkannt, dass es sich nur um eine minimale Änderung handelt, so dass die Prüfung nicht auf oberster Ebene durchgeführt werden muss. Herr L. hat im letzten Schuljahr zwei Fortbildungen besucht und die entsprechenden Qualifikationen erworben. Immer mehr Kollegen von Herrn L. besuchen diese Fortbildungen und arbeiten am gemeinsamen Materialpool mit. Seine Bearbeiter-Rolle wurde aufgrund des Zertifikats der Fortbildung auf »Bearbeiter mit einfachen redaktionellen Rechten« hochgestuft. So kann er nun die von ihm gemachte Korrektur selbst freischalten. Größere Änderungen hätten von einem Fachberater seines Regierungsbezirks oder von einem landesweiten Fachberater freigeschaltet werden müssen. Bis zur Freischaltung sind die großen Änderungen im Basisdokument nicht sichtbar, der bearbeitende Lehrer kann sie aber als »fork« sofort für sich einsetzen.

Herr L. druckt die Textteile seines Materials aus. Das Layout wird automatisch für den Druck optimiert – praktisch. Die Computerausstattung seiner Schule ist zwar gut, aber er hat trotzdem nicht für jede beliebige Stunde Rechner zur Verfügung. Für die geplante Stunde muss er ohne Computer auskommen und das Material in Form von Arbeitsblättern nutzen. Den Link auf die entsprechende Seite auf dem Landesbildungsserver baut er zusätzlich in sein Unterrichtswiki ein, in dem er mit seiner Klasse nach und nach die Inhalte des Unterrichts erarbeitet und dokumentiert. Die besonders schnellen oder interessierten Schüler können dann entweder zu Hause oder noch während der Stunde an einer der Computerinseln im Schulgebäude die Zusatzmaterialien und das Video nutzen …

Aus den Augenwinkeln nimmt Herr L. ein rotes Blinken wahr. Er schaut auf das Display des Kopierers. Die Fehlermeldung »Papierstau im Einzug« reißt ihn aus seinem Tagtraum. Mist, er dachte, er hätte die Kleberreste auf der Vorlage komplett entfernt. Er beugt sich über die Kopiermaschine und versucht, die zusammengeklebte Vorlage aus dem Einzug zu befreien.

* * *

Dieser Text ist eine Vision, wie die Erstellung und Nutzung freier Lernmaterialien in Zukunft aussehen könnte. Manches ist technisch und rechtlich bereits möglich, anderes nicht.

Die beschriebene Situation ist natürlich nur ein denkbares Szenario. Manches von dem, was ich beschrieben habe, ist wahrscheinlich gar nicht die beste Lösung. Darum ging es in diesem Text jedoch nicht – ich wollte an einer konkreten Alltagssituation ausformulieren, in welche Richtung die Diskussion um freie Lernmaterialien (open educational resouces, OER), die durch den so genannten »Schultrojaner« in Gang gebracht wurde, gehen könnte.

Die folgenden Beiträge vertiefen das Thema:

 

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