Ungeordnete Gedanken zum Lernen und zur Komplexität der Welt

Robert Glashüttner macht sich interessante Gedanken über das Lernen und die Komplexität der Welt. Ich füge hier ein paar ungeordnete Gedanken an.

Ich bin immer wieder verblüfft, wenn ich an mir selbst merke, in welcher diffusen Weise Lernen funktioniert.
Robert Glashüttner: Die Welt war immer schon komplex

Dito.

Ich erinnere mich an Momente des Endlich-Verstehens bei Mathematik-Aufgabenstellungen in der Schule, bei denen ich nachher innerlich den Kopf darüber geschüttelt habe, wie umständlich, über unnötige Umwege mir das erklärt worden war.

Dieses Verkomplizieren, das ewige Kommunikationsproblem beim (meist schriftlichen) Weitergeben von Wissen, ist eine substanzielle Hürde, die weiterhin und trotz aller Bemühungen um neue Lehrmethoden, überall sichtbar ist – egal, ob in der Schule, auf der Uni oder beim Installieren des neuen Druckers.
[ebd.]

Das Empfinden, dass die Erklärung des Lehrers oder des Buches aus Sicht des Lerners so umständlich war, ist meines Erachtens ein starkes Argument für die Tragfähigkeit der Idee des konstruktivistischen Lernens. Ich kann mich als Lehrer noch so abstrampeln – jeder Schülerkopf muss das Wissen selbst zusammenbauen. DIE perfekte Erklärung eines Sachverhalts gibt es nicht.

* * *

Aber nur, weil wir es jetzt viel klarer vor Augen haben, wie komplex unsere Welt ist, heißt es nicht, dass sie es im vordigitalen Zeitalter nicht auch schon war.
[ebd.]

Auch das halte ich für eine wichtige Erkenntnis. Wir neigen meines Erachtens dazu, frühere Zeiten zu idealisieren und zu romantisieren – als sei das Leben früher einfacher und überschaubarer gewesen. Das stimmt wohl meistens nicht:

Seit fünfhundert Jahren, präziser gesagt: seit der Erfindung des Buchdrucks geht jedes neu etablierte Medium mit einem parallel feststellbaren Unbehagen einher. Beispiel ist Goethe. In der Studie „Fausts Kolonie – Goethes kritische Phänomenologie der Moderne“ (Würzburg, 2010) zeigt der Berliner Literaturwissenschaftler Michael Jaeger eindrucksvoll, dass selbst dieser Schriftsteller durch das Aufkommen eines relativ neuen, zunächst bedrohlich wirkenden Mediums, durch die Zeitung nämlich, sich heillos überfordert fühlte.
Hätte Goethe einen Facebook-Account?

Ich erinnere mich, bei der Lektüre von Imperium, bei der fiktionales Erzählen mit dem Hintergrundwissen von neuen Jahren Latein zusammenflossen, einmal einen Aha-Moment gehabt zu haben: Schon im alten Rom war die Politik so wie heute. Schon damals ging es in der „großen Politik“ prinzipiell genauso zu wie ich das heute oft als abschreckend empfinde. Der Aha-Effekt war für mich die Erkenntnis, dass ein gebildeter Mensch von damals prinzipiell zu den gleichen Gedankengängen fähig war wie heute – abzüglich des seither zusammengeforschten Wissens natürlich.

Unsere Probleme, mit neuen Entwicklungen angemessen umzugehen, sind auch nicht neu.

«Die Lesesucht ist eine unmässige Begierde, seinen eigenen, unthätigen Geist mit den Einbildungen und Vorstellungen Anderer aus deren Schriften vorübergehend zu vergnügen. Man lieset, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern um zu lesen; man lieset das Wahre und das Falsche prüfungslos durcheinander, ohne Wissbegier, sondern mit Neugier. (…) Man gefällt sich in diesem behaglichen, geschäftigen Geistesmüssiggang, wie in einem träumenden Zustande.»
Pfarrer Heinrich Zschokke (1821): Stunden der Andacht zur Beförderung wahren Christenthums und häuslicher Gottesverehrung zitiert in Peter Schneider: Von der Lese- zur Internetsucht

Was damals die breite Verfügbarkeit billiger Bücher war, ist heute das allgegegenwärtige Netz. Aber die Ankunft eines neuen Mediums macht das alte nicht besser oder schlechter – es ändert sich nur unsere Bewertung.

Das Auftauchen neuer Medien lässt die alten seriös werden – seit es das Fernsehen gibt, ist Kino Kultur geworden.
Peter Schneider: Von der Lese- zur Internetsucht

* * *

Nur, weil Informationen und in weiterer Folge Wissen gerade neu produziert wird und sich Nachrichten durch schnelle Multiplikation via Web flächendeckender ausbreiten als mittels der „alten“ Medien (Print und elektronisch), sind sie nicht automatisch umfangreicher und schwieriger zu handhaben. […]

Schwieriger ist es da schon mit dem tiefgreifenden, analytischen Wissen, denn das ist – im Gegensatz zum leicht abrufbaren, lexikalischen Faktenwissen – eben meist nicht bzw. nur lückenhaft in der derzeit so gerne abgefeierten Datenwolke zu finden, sondern vielfach weiterhin in Büchern, Zeitschriften und analogen Tonträgern aufgehoben.
Robert Glashüttner

Oder es ist in Köpfen zu finden. In cleveren und belesenen Köpfen verdichtet sich das langfristig angesammelte Faktenwissen zu Reflexion, Transfer, Analyse und Kreativität.

Deswegen ist es heute noch genauso wichtig wie es immer war, viel zu lernen und viel zu wissen – es reicht eben nicht zu wissen, wo „es“ steht. Wenn man „es“ im Kopf hat, kann man schon weiter denken, reflektieren und kombinieren während die anderen noch googlen.

* * *

Wie gesagt: ungeordnete Gedanken. Die historische Perspektive hilft jedoch meines Erachtens, die heutige Situation besser einordnen zu können. Manchmal stimmt das zuversichtlich, manchmal nicht.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert