Neulich las ich einen Artikel bei Perspective Daily, in dem der Soziologieprofessor Holger Lengfeld davon berichtet, dass der Zusammenhalt der Menschen untereinander in Europa durchaus nicht so schlecht sei, wie man das gemeinhin empfinde (Europa ist solidarischer, als du denkst. Hier sind 4 Beweise).
U.a. sagt Herr Lengfeld in diesem Interview auf die Frage, warum solche positiven Signale wenig wahrgenommen würden, Folgendes:
Ich habe eine Vermutung. Da ich mich als empirischer Sozialforscher verstehe, betone ich, dass ich dafür keine Belege habe. Mir scheint aber, dass es eine schweigende Mehrheit gibt. Und diese schweigende Mehrheit wird bei der heutigen Krisenbetrachtung überhaupt nicht beachtet. Weil wir in der Öffentlichkeit – und da schließe ich auch Journalisten und Medien mit ein – Ereignisse als wichtiger bewerten, die vom Alltag abweichen.
Ähnliche Gedanken begegneten mir auch in einem Buch, das ich über den Sommer geradezu verschlungen habe: Factfulness, von Hans Rosling, geschrieben zusammen mit seinem Sohn Ola Rosling und seiner Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund. Rosling definiert den von ihm geprägten Begriff „factfulness“ so:
The stress-reducing habit of only carrying opinions for which you have strong supporting facts.
Menschen, die sich für gebildet halten, würden wahrscheinlich sagen, dass das doch selbstverständlich sei: Natürlich habe man nur Meinungen, die sich auf Fakten stützen. Hans Rosling widerspricht jedoch und hat dafür auch handfeste Belege. Viele Jahre lang vor seinem Tod 2017 reiste er um die Welt und hielt Vorträge über verschiedene Aspekte gesellschaftlicher und politischer Entwicklung in der Welt. Zu Beginn der Vorträge stellte er seinem Publikum oft einfache Fragen, bei denen die Lage der Welt z.B. hinsichtlich Kindersterblichkeit, Bildungsgrad in Entwicklungsländern, typische Familiengröße etc. eingeschätzt werden sollten. Er stellte wieder und wieder fest, dass sein – in aller Regel – sehr gebildetes Publikum die Lage der Welt konsequent deutlich schlechter einschätzte als sie nach der Datenlage war.
Nachdem er in vielen Vorträgen, von denen zahlreiche auch online verfügbar sind, die korrekten Daten präsentierte, wurde ihm jedoch klar, dass das allein nicht reichte. Die Menschen freuten sich über die unerwartet positiven Daten, aber ihr Bauchgefühl über die Lage der Welt änderte sich nicht. An dieser Stelle kommt nun „Factfulness“ das Buch ins Spiel.
In dem Buch identifiziert Rosling zehn „Instinkte“, die einer realistischen, empirisch begründeten Weltsicht oft im Weg stehen.
- Ein Beispiel ist der „Gap-Instict“ (ich habe das Buch auf Englisch gelesen). Er lässt uns dazu tendieren, unsere Gruppe als klar getrennt von einer anderen Gruppe wahrzunehmen. Zum Beispiel die Menschen des „Westens“ als ganz anders als Menschen in Entwicklungsländern.
- Oder auch der „Destiny-Instinct“, der uns mitunter glauben lässt, dass manche Dinge „einfach so sind“ und sich „nie ändern werden“, wobei wir oft nicht sehen, dass in vielen Bereichen langsamer Wandel im Lauf der Zeit zu großen Veränderungen führen kann.
- Zum Eingangsbeispiel über den Zusammenhalt in Europa passt der „Negativity-Instinct“, der dazu führt, dass wir unsere Aufmerksamkeit viel eher auf negative oder katastrophale Ereignisse richten als auf langsam ablaufende Verbesserungsprozesse. Dazu passt sehr schön dieses Video des Amerikanischen Autors John Green:
Der YouTube Server wird erst kontaktiert, wenn Du das Video abspielst. Vorher werden keine Daten an YouTube übertragen. Für das Abspielen gelten die Datenschutzbestimmungen von Google.
Jedes der zehn Kapitel über die irreführenden Denkmuster erläutert klar und anschaulich, worin die Fehler liegen und gibt am Ende anschauliche Tipps, um sie zu vermeiden.
Fazit – Ein Buch, das man gelesen haben muss …
… und das v.a. in der Schule gelesen und besprochen werden sollte. Die Materialien dazu sind frei und kostenlos verfügbar.
Bill Gates wird auf dem Cover mit dem Satz zitiert, dass er „Factfulness“ für eines der wichtigsten Bücher halte, das er je gelesen habe. Dem kann ich mich anschließen. „Factfulness“ argumentiert nicht nur überzeugend für eine evidenzbasierte Sicht der Welt. Durch die kluge Strukturierung in zehn irreführende Denkmuster („Instincts“) und die Tipps zur Vermeidung der Denkfehler liefert es seinen Leser/innen auch die nötigen Werkzeuge, um das eigene Denken nachhaltig zu schärfen und die Welt klarer zu beurteilen.
Der Hans Rosling eigene freundlich-engagierten Ton und seine Offenheit bezüglich eigener Denkfehltritte tragen dazu bei, dass das Lesen Freude macht und ein persönlicher Zugang zum Autor und seinem Inhalt entsteht.
Ich habe das Buch meinen Kursstufenschüler/innen intensiv ans Herz gelegt.
Möglichst viele Leute sollten es lesen!
Factfulness Symbolgrafik: 10 FACTFULNESS COMMANDMENTS, Hans Rosling, Ola Rosling, Anna Rosling Rönnlund, https://www.gapminder.org/factfulness/, CC BY SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Hallo.
Sehr schön.
Ich teile deine Meinung, die du auf der verlinkten Seite über Fachbücher schreibst. Fachbücher lesen ist wichtig. Gerade auch Themen, die nicht das eigentliche Interesse des Lesers sind.
Ich bin eher der Typ „Naturwissenschaftler“. Ich lese viel zum Thema.
Aber gerade deshalb wähle ich in letzter Zeit gerade Fachbücher, die nicht „meinem“ Gebiet entsprechen. Psychologie, Politik, Geschichte. Das steht alles auf meiner Liste.
Aber: Es fällt mir oft schwer die richtigen Bücher aus diesen Gebieten auszuwählen, weil ich halt auch wenig Umgang mit diesen Themen habe. Deshalb bin ich immer dankbar über jede geteilte „Leseliste“ (siehe dein Link) von Leuten, denen ich Kompetenz unterstelle.
Danke.
Ivo
Vielen Dank für diesen blog, der die Idee der factfulness näherbringt. Ich finde es wichtig zu betrachten, dass Rosling mit factulness einen vorsichtigeren Umgang mit Statistiken befördern will. Es geht ihm nicht beim Umgang mit Statistiken weniger um Vermeidung von Fehlern, weil Fehlerfreiheit ein Ziel an sich ein Ziel wäre, sondern es geht ihm um die Art, Schlüsse zu ziehen. Er zeigt auf, dass einfache Schlüsse fast immer nahelegen, häufig falsch sind und wie ihre Logik vermieden werden kann. Rosling hat damit das Ziel einer besseren Verständigung und einer besseren Welt vor Augen – factulness ist ein MIttel zum Zweck.